Glocken und ihr Guss

Es gibt wohl kaum ein Musikinstrument, was die Menschen von jeher derart faszinierte wie die Glocke.
Seit Jahrtausenden fesseln derartige Klangkörper die menschliche Seele. Sie sind kaum mehr aus unserem Alltag zu lösen. Unzählige Dichter haben über Glocken geschrieben, viele Lieder besingen sie. Von Kindheit an begleiten sie uns und läuten auf unserem letzten Weg.
Woher kommt aber die Glocke? Wozu gibt es sie? Was bedeutet ihr Lied?

Schlagen wir in alten Schriften nach und beschäftigen uns mit der Entstehung der Glocken, so müssen wir immer wieder erkennen, dass die Glocke nie erfunden worden ist.
Weder in Akten früherer Zeit noch in moderneren Veröffentlichungen kann man exakte Angaben mit einer Jahreszahl belegen. Fakt ist jedoch, dass bei den meisten Völkern unserer Erde in früher Zeit akustische Zeichen Verwendung fanden. Kultische Zusammenkünfte sind mit hörbaren Klopf- oder Schlaggegenständen angekündigt angekündigt worden.

In der asiatischen Welt wurden mit Erkennung und Nutzung von Metallen aus diesem Material erste Klangkörper gefertigt. Und es ist schon erstaunlich, dass man dies bereits auf die Zeit um 3000 vor Christus datieren kann.
Kleine Schellen und Glöckchen an Gewändern oder Fußgelenken befestigt, wurden von Tempeldiendern und -tänzerinnen bei kultischen Handlungen getragen. Griechen und Römer nutzten sie als Schmuck. Allerdings waren diese Exemplare von nur geringer Größe.

Besonders in Bergregionen trug und trägt das Weidevieh Glocken. Ursprünglich sollten böse Geister damit ferngehalten werden. Denn den Glocken sprach man die Macht zu, durch ihre eherne Stimme den Fluch böser Dämonen zu bannen.
Wenn man heute, wie es noch in verschiedenen Gebirgen zum Teil üblich ist, den Tieren Glocken umhängt, hat das andere Gründe. Zum einen wird damit eine alte Tradition aufrechterhalten, zum anderen wird mit Glocken angezeigt, wo ein verschwundenes, vielleicht verletztes Tier zu finden ist.
Mit kleinen Hand- oder Hängeglocken wurden auch Markttage angekündigt. Der Ausbruch von Feuer oder die Gefahr eines nahenden Hochwassers konnte so ebenfalls akustisch angezeigt werden.
Die Glocke kam also zunächst sowohl für kultische als auch für Signalzwecke zum Einsatz.
Ihre Ausmaße waren eher von geringer Größe. Auch waren sie zunächst meist aus Eisenblech, welches gebogen und zusammengefügt wurde.

Die Frage, wann und in welcher Region gegossene Glocken erstmals eingesetzt wurden, konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden. Auch wann und wo sie erstmals für den christlichen Dienst Verwendung fanden ist nicht nachweisbar. Die Meinungen hierüber gehen teilweise weit auseinander. Vermutlich war der Einsatz christlicher Glocken in allen christlichen Regionen zeitgleich.
Erwiesen ist, dass um das Jahr 300, nämlich während der Regierungszeit Kaiser Konstantins, die Glocke im Römischen Reich bereits verbreitet war.
Durch Benediktinermönche mit dem Leitspruch "AD MAIOREM DEI GLORIAM"
"Zum größeren Ruhme Gottes"

fand die Glocke im 6. Jahrhundert eine schnelle Verbreitung.
Mit der Zeit wurden größere Glocken gegossen. Auch Klangqualität, Form und Gestaltung nahmen einen höheren Stellenwert ein.
Wir kennen seit dem frühen Mittelalter vier gravierende Glockenformen. Davon hat sich die "Gotische Rippe", die wir als meistverbreitete Form kennen, über Jahrhunderte hinweg bewährt und durchgesetzt.

Wenn wir nach der Bestimmung der einzelnen Glocken fragten, müssten wir eine lange Reihe aufzählen.
Neben den liturgischen Kirchenglocken, sind uns die Rathaus-, Schul- und Uhrglocken bekannt.
Einen besonderen Stellenwert in der Glockenlandschaft des Erzgebirges nehmen die Berg- und Häuerglocken ein, die von einer langen Bergbautradition künden.

Über Jahrhunderte hinweg oblag das Glockengießen ausschließlich den Mönchen. Nur sie hatten das Privileg dieses einzigartigen Handwerks.
Erst mit der ständig wachsenden Nachfrage vieler Kirchen nach geeigneten Glockengeläuten, konnte auch außerhalb der Klöster gegossen werden.
Der Glockenguss ist eines der bedeutendsten Kunsthandwerke.
Dabei sind die komplizierten Berechnungen einer Glocke ein wichtiger Hauptbestandteil dieses Berufes.
In einer einzigen Glocke soll ein ganzes Orchester von Tönen miteinander harmonieren. Jeder einzelne der zahlreichen Teil- und Obertöne muss sich ins Gesamtgefüge einpassen. Nur so kann ein
wohltuender Nominal = Schlagton erzielt werden.
Besonders bei einem mehrstimmigen Geläute ließen schädliche Disharmonien das Zusammenläuten mehrerer Glocken nicht zu.
Die einzelnen Teil- und Obertöne erzielt der Glockengießer in der unterschiedlichen Stärke einer Glockenwandung, der Rippe. Und dies bedarf besonderes Können, sowohl musikalisch als auch rechnerisch.
Erst wenn die Glocke genau errechnet ist, kann der Guss vorbereitet werden.
Auch diese Arbeiten fordern fachlich hochwertige Erfahrungen.

Der Guss einer Glocke erfolgt bis heute nach wie vor in reiner Handarbeit und in drei Formteilen.
Um genau die zu gießende Glockenform zu erhalten, zeichnet der Glockengießer nach langen und genauen Berechnungen den Querschnitt der gewünschten Glocke auf ein Holz. So entsteht die Schablone, die maßgenau ausgeschnitten werden muss. Danach wird die Schablone drehbar an einer senkrecht stehenden Spindel befestigt.
Nun gilt es in der Gießgrube, aus Lehmsteinen und -schichten um diese Spindel herum den "Kern" zu formen, der dem Inneren, der "Hohle" der Glocke entspricht.

Zunächst muss die Schablobe bis zur äußeren Zeichnungslinie weiter ausgeschnitten werden.
Dann wird der inzwischen getrocknete Kern mit einer Talgschicht versehen, auf der in mehreren dünnen Schichten wiederum Lehm aufgetragen werden muss. Somit wird nach und nach der Raum zwischen Kern und Schablone geschlossen.
Die gewünschten Inschriften und Bilder, welche die spätere Glocke zieren sollen, bekommen nun in Form von Wachsmodellen ihren Platz auf der falschen Glocke.
Nachdem die falsche Glocke nun auch mit einer Talgtrennschicht versehen wurde, folgt der dritte Formteil, die Anfertigung des Mantels. Dieser Arbeitsgang fordert besondere Sorgfalt.
Wieder werden Lehmschichten aufgetragen. Zunächst findet sehr feiner Lehm Verwendung, um die angebrachten Wachsmodelle nicht zu beschädigen. Dann folgen Schichten mit rauerem Lehm. Außerdem wird der genau berechnete Mantel zur Sicherheit mit Eisenbändern gefasst.
Mit entsprechenden Beheizungen der Glockenform trocknen die einzelnen Schichten. Dabei schmelzen die Talgtrennschichten und Wachsmodelle heraus.
Später wird mit Hilfe der Hebetechnik der Mantel vorsichtig von der falschen Glocke abgehoben.
In ihm werden nun die seitenverkehrt eingedrückten Inschriften und Verzierungen nachgearbeitet.
Dann muss die falsche Glocke vorsichtig zerschlagen werden. Somit wird der Hohlraum zwischen Kern und Mantel geschaffen, den die Glockenspeise ausfüllen soll.
Nun kann der Mantel wieder passgenau aufgesetzt werden.
Beim Guss entstehen sehr starke Kräfte und Spannungen. Um diese einzudämmen, wird die Gießgrube um die Form herum mit Erde verfüllt. Die Erde muss vorsichtig eingestampft werden.
Bevor der Mantel seine völlige Abdeckung erhält, wird noch die "Glockenkrone" mit Windpfeifen und dem Eingussloch auf ihm aufgesetzt. Durch die Windpfeifen entweicht dann beim Guss die Luft aus dem Hohlraum, während des Einlaufens der Glockenspeise. Erst dann kann die Form ihre entgültige Abdeckung erhalten.

In die obere Erdschicht werden nun noch die Kanäle gemauert. Sie transportieren als offene Rinnen die Glockenspeise, die in der Regel aus 78% Kupfer und 22% Zinn besteht.
Nun kann die Glockenspeise und der Guss vorbereitet werden. Das Kupfer wird über mehrere Stunden hinweg erhitzt. Um das Verdampfen des Zinns zu vermeiden, kann dieses dem Kupfer erst wesentlich später beigefügt werden.
Nach jahrhundertealter Tradition werden auch heute noch weltweit die Glocken freitags 15 Uhr, zur Zeit der Sterbestunde Christi gegossen.
Der Guss erfolgt meist im Beisein der Auftraggeber und muss zügig und ohne Unterbrechung erfolgen.
Je nach Größe der Glocke, kann Tage später die Form von der sie umgebenden Erde befreit werden.
Später wird der Mantel vorsichtig zerschlagen und die Glocke freigelegt.
Nun folgt die Säuberung und die Abnahme durch geprüfte Glockensachverständige.
Wird ihr die gewünschte Klangqualität bescheinigt und, ist ihr optischer Eindruck zufriedenstellend, kann sie ihrem Bestimmungsort zugeführt und geweiht werden.
Dann erhält sie ihren Platz im Turm, wo sie viele Menschen auf dem Weg durchs Leben begleiten wird.

Unter den Metallgießern nimmt von alters her der Glockengießer eine ganz besondere Stelle ein.
Es hat im Laufe vieler Jahrhunderte zahlreiche namhafte Meister dieses Kunsthandwerkes gegeben.
Manche unter ihnen, haben sich mit dem Guss ihrer Glocken ein ewiges Denkmal geschaffen.
Leider sind in Kriegszeiten wertvolle Glocken vernichtet worden, und damit ging unwiederbringliches Kulturerbe für immer verloren. Zum einen wurden Glocken für die Rüstungsindustrie beschlagnahmt und eingeschmolzen. Zum anderen fielen unzählige Glocken immer wieder der Zerstörung und Bombardierung von Städten und Dörfern zum Opfer.
Glücklicherweise sind uns aber noch einige wertvolle Zeugen aus längst vergangener Zeit erhalten geblieben.
Mit dem Guss der Gloriosa des Erfurter Domes wurde der holländische Glockengießermeister Gerhardt van Wou aus Kampen weltberühmt. Ihm gelang dieses Meisterwerk im Jahr 1497, nachdem der Guss anderen Glockengießern zuvor mehrfach misslungen war. Die Erfurter Gloriosa mit ihrem Gewicht von 227 Zentnern gilt als die Königin der Glocken weltweit. Sie ist die größte mittelalterliche Glocke. Auch wenn es heute längst weitaus größere Exemplare gibt, wird sie die Königin unter ihren Schwestern bleiben.
In Thüringen und Sachsen waren viele bekannte Glockengießerfamilien ansässig. Ob Hilliger oder Große, ob Ulrich oder Schilling, um nur einige wenige zu nennen, alle waren Meister ihres Faches. Und noch heute kann man sich beim Läuten ihrer wenigen noch vorhandenen Glocken von der hohen Qualität überzeugen.
Da die Glockengießer nicht ausschließlich vom Guss der Glocken leben konnten, waren sie oftmals zusätzlich Stückgießer. Auch das Gießen von Kanonen ist in vielen Fällen bezeugt.

Die Glocke einer Kirche trägt die Inschrift - auf der Vorderseite:
"Feindlich Geschütz aus Welschen Landen, bin ich als Glock hier auferstanden.
Der Deutsche hat mich dann bekehrt und mich den Friedensdienst gelehrt."
- und auf der Rückseite: "Denen ich Tod und Verderben bringen sollte, die machten mich zum Friedensboten"

In Kriegszeiten wurden die Glocken zu Kanonen umgegossen. Nach Kriegsende goss man die Kanonen wieder zu Glocken um.

Bereits vor der Jahrhundertwende, also vor 1900 goss man als Alternative zu den Bronzeglocken Glocken aus Stahl.
Diese konnten nicht die Klangqualität ihrer bronzenen Schwestern aufweisen und waren auch im Nachhall (Abklingdauer) nicht mit ihnen vergleichbar. Vorteile des Gusses aus diesem minderwertigen Material bestanden aber darin, dass die Glocken zum einen in der Anschaffung wesentlich billiger waren, zum anderen bestand bei ihnen nicht die Gefahr, sie im Kriegsfall von den Türmen holen zu müssen.
Eines der schönsten und größten Geläute aus dieser Zeit befindet sich im Turm der Friedenskirche Aue-Zelle. Es ist ein Bochumer Stahlgeläut und weitgehend im Originalzustand erhalten geblieben.
Sowohl im I. als auch im II. Weltkrieg mussten auch aus der Erzgebirgsregion viele Bronzeglocken für Rüstungszwecke abgeliefert werden. Hochwertigstes Kulturerbe in unermesslichem Maße wurde damit unwiederbringlich zerstört. Einen geringen Bruchteil der abgenommenen Glocken konnte man nach Kriegsende an die Gemeinden zurückführen.
Nur ganz wenige besondere Geläute blieben komplett verschont. Beispiele dafür sind das Dreiergeläut von Johanngeorgenstadt und das Lauterer Geläut im Ehrenmal.
Aufgrund der fehlenden Glockenbronze hieß es nun vermehrt Stahlglocken zu gießen. Aber auch mit Eisenhartgussglocken mussten die Gemeinden ihre fehlenden Bronzeglocken ersetzen. Deren Klangqualität unterschritt, bis auf wenige Ausnahmen selbst die der Stahlglocken.
Eine der damals wichtigsten Gießereien für solche "Ersatzglocken" war die Firma Lattermann in Morgenröthe im erzgebirgischen Vogtland.
Die bekannte Glockengießerei Schilling in Apolda lieferte die für den Guss notwendigen Berechnungen der Glocken, nach denen dann in Morgenröthe gegossen wurde.
Diese Glocken fertigte man in einer besonderen Legierung - Klanghartguss bzw. Klanghalbstahl.
In Morgenröthe entstanden zahlreiche Geläute, die noch heute im Einsatz sind.
Bereits in den Jahren 1926/27 goss diese Firma die Glocken für die Kathedrale und die Allerheiligenkirche zu Riga. Mit einem Gewicht von je 8,5 Tonnen, einem Durchmesser von ca. 2,50 und einer Höhe von etwa 3 m waren diese beiden Glocken die größten hier gegossenen Werke.
Aber auch andere berühmte Glocken, wie die für Albert Schweizer in Lambarene, und viele mehr entstammen der Gießerei.
In vielen Kirchen unseres Landes und darüber hinaus erklingen in Morgenröthe gegossene Glocken.
Eines der schönsten, 1947 dort entstendenen Dreiergeläute, befindet sich noch heute in Originalzustand im Turm der St. Georgenkirche zu Schwarzenberg. Mit einem Gesamtgewicht von 3979 kg erklingt es täglich über den Dächern der Erzgebirgsstadt.
Nachdem die Familie Lattermann 1946 enteignet worden war, lief die Firma später als VEB weiter, brannte 1969 ab und wurde danach nicht wieder in Betrieb genommen.
Damit ist unserer Region eine weithin bekannte Firma verlorengegangen.



     Gerd Schlesinger
Schwarzenberger Türmer